Freitag, 9. Mai 2014

Hoch

207. 3./4.5.2014

Die heutige Etappe wird sehr verschieden interpretiert. Unsere Karte verspricht eine Gehzeit von 3:20, die Guides schätzen sie auf sechs Stunden und unser Reiseführer prophezeit sieben. Wir halten uns an die optimistische Angabe, alles andere liegt nach der gestrigen Etappe außerhalb unserer Vorstellungskraft. Betont gelassen brechen wir erst um zehn auf und strafen die Pessimisten und vorsichtigen Schätzer Lügen: Binnen zwei Stunden haben wir mehr als die Hälfte der Strecke zurückgelegt und entspannen in einem Teahouse bei unserer Diät aus Nutella, Erdnussbutter, Keksen und Pringles. Zum Nachtisch gibt es Yak-Käse, der, ähnlich wie Yakfleisch, fast genauso wie von Kühen schmeckt. Derart gestärkt beginnen wir die zweite Hälfte unseres Aufstiegs zum Thorung La Base Camp (Thorung Phedi) auf 4450m. Erneut verliert die Landschaft jegliches Grün, die Winde werden eisig und die Biosphäre verabschiedet sich. Wir kämpfen uns einen kurzen, aber extrem steilen Hang hinauf und merken, wie stark unsere Beinmuskulatur von den letzten Tagen (insbesondere dem letzten Tag) in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die Idee, möglicherweise noch heute bis ins High Camp auf 4850m aufzusteigen, hat sich damit endgültig erledigt, eher hoffen wir, den Pass überhaupt am nächsten Tag überqueren zu können. Zumindest die Unterkunft bessert die Laune: Zwar sind die Zimmer unbeheizt und es herrschen dementsprechend Innentemperaturen um den Gefrierpunkt, der Aufenthalts- und Essensraum der von einem Nepali und einer Westlerin (die Nationalität habe ich nicht hrrausgefunden) gemanagten Lodge aber versammelt wohlig beheizt all die Menschen, die man in den letzten Tagen auf ihrem Weg zum "world's biggest pass" - was auch immer das heißen soll - getroffen hat. Bei Tee und Pasta werden Aufbruchszeiten ausgetauscht, Routen empfohlen, gespielt, geredet und Zeit totgeschlagen, bis gegen halb neun Ruhe einkehrt. Zwischen vier und sechs wird der Großteil der Anwesenden aufbrechen, wir entscheiden uns für fünf. Eine angenehm angespannte Stimmung liegt in der Luft. Draußen schneit es, doch die Wolken lösen sich auf. Noch sieben Stunden Schlaf. Im Schlafsack habe ich nicht das Gefühl, als würde ich diesen gemütlichen Mikrokosmos in den nächsten Tagen verlassen wollen. Aber es hilft ja nichts. Um halb vier schälen wir uns die Schlafsäcke von den mehrschichtig bedeckten Körpern und schlingen das Frühstück (Müsli mit alten Äpfeln und wässriger Milch) hinunter. Beim ersten Tageslicht stehen wir vor den gemein steilen Serpentinen. Die ersten vierzig Minuten sind die Hölle. Ich kann mir partout nicht vorstellen, mit solchen Schmerzen in den Beinen noch weitere zwei Stunden aufzusteigen. Doch der Weg wird flacher, die Muskeln wärmen auf und der Umstand, dass wir trotz allem die schnellste Gruppe sind, spielt psychologisch sicherlich auch eine Rolle. Nach zweieinhalb Stunden haben wir es geschafft. 5416m über dem Meeresspiegel befindet sich ein kleines Teehaus und ein Schild, das uns versichert, den Thorung La Pass vor uns zu haben. Einige Leute, die vom High Camp auf 4850m begonnen haben, sind bereits da. Achja, außerdem ein Hund, der uns bereits am Vortag mit einer unverschämten Leichtigkeit von Yak Karka nach Thorung Phedi begleitet hat (schwanzwedelnd hat er uns am Ende jedes Aufstieges erwartet). Für heute hat er sich also den Pass vorgenommen und darf sich hechelnd glücklich schätzen als einziger, der hier Essen von den Trekkern abbekommt. Der gesamte Aufstieg war nicht eben arm an Ausblicken, doch das Panorama hier oben ist durch nichts zu überbieten. Die Stimmung ist wie die am Zieleinlauf eines Marathons.
Wir konnten zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, was uns noch bevorstehen würde. Bis zum ersten Dorf im Tal gilt es, 1600 Höhenmeter abzusteigen und das zumeist auf gewundenen, steilen Pfaden. So merke ich, dass es in meinen Beinen doch noch einige Muskeln gab, die bisher nicht weh getan haben. Die Gegenseite des Passes ist eine grün gepunktete Halbwüste. Die Landschaft ist karg, monoton und genau deswegen so eindrucksvoll. An einem sanft geschwungenen Hang liegt Muktinath wie ein Weckruf der Zivilisation an die Trekker. Waren auf der anderen Seite verträumte, aus der Zeit gefallene Bergdörfchen die Regel, hat die Moderne hier in Form von Motorrädern und kastenförmigen Neubauten eine Schneise geschlagen. Dafür ist die Infrastruktur wesentlich besser, das Essen schmeckt und die Duschen sind heiß. Theoretisch. Jeder hat es erzählt, inklusive Eva und Leo. Doch sobald ich das Badezimmer betrete, ändert sich das anscheinend grundlegend. Nach einer Woche über 3000m ohne warmes Wasser wirkt das so, als öffnete man zu Weihnachten die Iphone Verpackung, um darin ein neues paar Socken vorzufinden. Ich gestehe mir drei Minuten Denkpause zu, um keine der beiden bei meiner Rückkehr anzublaffen.
Der Rest des Tages verläuft dagegen so ruhig wie angenehm. Ein wenig Ziellosigkeit macht sich breit, jetzt, da der Pass überwunden ist und es nur noch bergab geht.

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