216. 16.05.2014
Darf man sich über das Leid anderer Menschen freuen? Wir stellen uns diese Frage nicht, sondern tun es, als wir erfahren, dass die Französin, die unser Zimmer bezogen hätte, einen Motorrollerunfall in Laos hatte. Ihr ist anscheinend nichts Schlimmes zugestoßen, trotzdem verzögert sich ihr Abflug um einige Tage. Das bedeutet für uns fünf Tage Aufenthalt für umsonst.
Zu sehen gibt es für diesen Zeitraum jedenfalls genug. Nachdem wir in der Nähe der Haupteinkaufsstraße aus der Metro ausgestiegen sind, entdecken wir beim Umherschlendern das Singapore Art Museum, kurz SAM, wo gerade die einzige englischsprachige Führung des Tages beginnt. Im Gegensatz zu den letzten Kunstmuseen, in denen ich war, hat dieses neben Bildern auch eine Vielzahl von Skulpturen und (Video)Installationen. Für mich stand Asien immer für wirtschaftlichen Erfolg und kulturelle Leere (abgesehen natürlich von den alten, traditionellen Formen), aber Singapur belehrt mich eines Besseren. Es gibt alleine drei große staatliche Kunstmuseen, dazu unzählige Galerien und natürlich die Esplanade, hier besser bekannt als "the durian". Die zwei sehr organischen Haupthallen sehen durch die Außenverkleidung mit dreieckigen Metallstücken aus wie eine aufgeschnittene Durianfrucht und beherbergen neben supermodernen Konzert- und Theaterhallen viele kleinere Studios und Galerien, in denen beinahe täglich Konzerte, Ausstellungen und Theaterstücke stattfinden. Die Auswahl reicht von traditionell asiatischer Malerei bis hin zu einer Ausstellung von Annie Leibovitz. Im SAM bekommen wir moderne, teilweise interaktive Werke von hauptsächlich asiatischen Künstlern zu sehen, die entweder ihre Form oder ihr Verhältnis zu Singapur reflektieren sollen. Nach der Hetze in Delhi nehmen wir uns alle Zeit der Welt und bleiben vier Stunden, bevor wir zur City Mall weitergehen, weil Eva sich in ihrer eher pragmatischen Kleidung hässlich fühlt. Das kann hier leicht passieren, ich war noch nie in einer Stadt, in der die Menschen so gut angezogen sind. Die Chancen stehen gut, dass man in der Metro unter den Leuten um einen herum keine einzige Person findet, die nachlässig aussieht. Mit Shorts und T-Shirt bin ich leger an der Grenze zum Tolerablen. Eva in Schlabberhosen und dreckverkrusteten Nike Free liegt in der noch viel umkämpfteren Frauenliga weit darüber. Hotpants und Sandaletten schaffen Abhilfe. Zu Abend essen wir in einem der Foodcourts, wobei ich sehr wenig Glück mit meiner Wahl habe. Anstatt der Nudeln mit frittierten Teigtaschen hätte ich auch ein Pfund Butter essen können. Eine halbe Stunde liege ich mit dem Kopf auf dem Tisch, immer nahe an der Rückgabe meiner Mahlzeit über die Speiseröhre, dann raffe ich mich auf und wir fahren zum Boat und Clarke Quay (ausgesprochen kay), den Partymeilen Singapurs. Der Home Club, angeblich einer der wenigen alternativen Läden, hat leider wegen Renovierungsarbeiten geschlossen und so drehen wir unsere Runde quer durch die zwei Viertel, unterbrochen von einem Milchshake bei McDonalds.
Die Preise sind verrückt , das Bier gibt es im besten Fall für 5€ (0,3l), Shots beginnen bei 4€. Leider wirken die Clubs tatsächlich so bescheiden wie sie beschrieben werden. Coole Neon- und LED-Fassaden, U18-R&B-Verschnittmusik und Models auf Flatscreens, um einige der erschreckenden Beobachtungen zu schildern. Eva käme umsonst rein, wäre angesichts der 30S$ (Singapurdollar ~ 60ct), die ich für den Schwachsinn ausgeben müsste, allerdings alleine. Wir ziehen (nach einem langen Smalltalk mit zwei indischen Expats) weiter und finden eine sagenhaft bescheuerte Bar ohne Eintrittskosten. Vor einer Menge aus besoffenen Asiaten und Europäern um die 40 spielt eine Band mit einem Transvestiten als Frontsänger/in Schlager in unglaublich schlechtem Playback. Immerhin 20 Minuten halten wir das durch und haben dabei sogar eine Menge Spaß, dann zieht es uns aber wieder nach draußen. Da Eva Lust auf ein Eis hat, steht ein Besuch bei McDonalds an, der für angetrunkene Nachtschwärmer hier dieselbe Funktion hat wie bei uns. Auf dem Weg stolpern wir über die Ausstellung eines singaporianischen Analphabeten in einem Café (es ist mittlerweile ein Uhr nachts). Er skizziert die Gesichter berühmter Persönlichkeiten mit Kugelschreiber. Die einzelnen Linien sind dabei nicht mehr als Gekritzel, doch mit etwas Abstand treten nicht nur Gesichtszüge, sondern auch Licht und Schatten zu Tage. Für ihre technische Umsetzung sind die Bilder mit Preisen zwischen 280 und 4800S$ eigentlich günstig. Wen der Stil interessiert, sollte nach Vince Low suchen.
Wir entscheiden uns trotzdem für ein Eis und schlendern weiter zur Brücke am Clarke Quay, wo halb Singapur am Vorglühen ist. Bei den bisherigen Erfahrungen mit den hiesigen Bars und Clubs kann etwas Alkohol wohl kaum schaden und weil es bei 7/11 (Tankstelle ohne Benzin, entgegen des Namens nicht von sieben bis elf, sondern immer offen, solange Geschäft zu machen ist) ein Sonderangebot für das billigste Bier gibt, genehmige ich mir zwei (für unglaubliche 7,50S$, so viel kostet sonst eine Dose). Eva hilft ein bisschen, bleibt aber im Großen und Ganzen nüchtern. Während wir auf dem Brückengeländer sitzen, spielt sich eine weitere bezeichnende Episode für Singapur ab. Eine Obdachlose bietet uns Taschentücher für 50 Pennies an, was wir mit einem "Nein, danke" ablehnen. Sie erwidert mit ausnehmender Höflichkeit: "Thank you, and have a nice day tomorrow." Ob Busfahrer, Supermarktverkäufer oder Bauarbeiter, wir haben während unseres gesamten Aufenthaltes keine einzige mürrische Antwort bekommen, wurden nie übergangen und mit beispiellosem Zuvorkommen behandelt. Wenn mir etwas von dieser Stadt positiv in Erinnerung bleibt, dann nicht die Architektur oder Kunst, sondern die allgegenwärtige Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft.
Der nächste Versuch scheitert zunächst, weil ich keinen Ausweis dabei habe, doch zwei Minuten später ist vom Türsteher weit und breit nichts zu sehen und so gehen wir in die Bar, die als eine der letzten überhaupt noch Musik spielt. Die akzeptable Black Music Mischung endet jedoch abrupt nach 20 Minuten, die Lichter gehen an, Ladenschluss. Zum Glück wurde Eva bis dahin von einem amerikanischen Expat mit französischer Frau, Kind und indonesischer Geliebter angequatscht, der uns zu sich an den Tisch einlädt. Mit dabei sind seine Geliebte, ein französischer Arbeitskollege, dessen phillipinische Frau (die ganz und gar nicht eingekauft wirkt) und eine Flasche Belvedere Vodka für etwa 200S$, von denen ich in der nächsten Stunde mindestens 50 vertrinken werde. Eva hält sich zurück, dass Gespräch dreht sich um Indonesien, die Arbeit hier und immer wieder darum, wie sehr der Amerikaner seine Geliebte liebt und seine Frau hasst. Zum Schluss gewinne ich im Armdrücken gegen ihn (wobei mir sein französischer Kollege wortwörtlich unter die Arme greift), wir werden von Vola, der Indonesierin, nach Jakarta eingeladen und ich habe mich für eine Summe betrunken, von der ich zu Hause im besten Restaurant essen gehen könnte. Die Nachtbusse fahren um halb fünf anscheinend nur noch auf dem Fahrplan, also weiter zur Metrostation. Die ist dummerweise bis sechs geschlossen, doch ich erinnere mich des Retters aller hungrigen Wartenden und Suche zielstrebig den nächsten McDonalds auf. Mit einem zeitigen Frühstück in der Hand und einer todmüden Eva neben mir findet sich ein schönes, ruhiges Plätzchen am Ufer der Bay. Zehn Minuten später schläft Eva tief und fest neben mir, während ich kämpfe, um wach zu bleiben. Einmal eingeschlafen, wachen wir hier nicht vor neun auf. Nach 40 Minuten ist die Probe bestanden, wir laufen zurück zur Station und nehmen die erste Metro nach Hause. Am intelligentesten erscheint uns für die dreiviertelstündige Heimfahrt, dass einer schläft, während der andere genau das zu verhindern versucht, auf halber Strecke wird gewechselt. Die Taktik geht auf und um sieben Uhr morgens fallen wir nach einem wahrhaft langen (wie an diesem Text unschwer zu erkennen ist) Tag fix, fertig und ungeduscht aus den Schuhen ins Bett.