88. 28.12.2013
Ich muss meinen Tagesrhythmus mal wieder ändern, seit meinem Nachtflug stehe ich kaum mehr vor 10 auf. In Anbetracht der Tatsache, dass Tageslicht hier essentiell für Unternehmungen ist, ist das ungünstig. Die self-guided Stadttour geht heute weiter mit einem Besuch der AVM Filmstudios, die nach Mumbai den zweitgrößten Ausstoß an Bollywood Filmen haben. Das klingt jetzt sehr abwertend, aber tatsächlich sind die Filme absolut austauschbar und nach unseren Maßstäben schlecht. Aber das braucht hier niemanden zu kümmern, die meisten Inder gehen nicht ins Kino wegen dem innovativen Drehbuch, der oscarreifen Schauspielleistung oder der neuen 8D 760 frames per second Technologie. Einen guten Hinweis gibt der Name des besten Kinos Chennais: Escape. Kino ist Realitätsflucht und heile Welt. Schöne Männer, schönere Frauen, teure Autos, westliche Großstädte und (immer!) Happy Ends. Ausgedehnt auf Spielzeiten von 3 bis 4 Stunden. Ich habe auf jeden Fall vor, mir einmal einen solchen Film im Kino anzusehen und sei es nur wegen des kulturellen Verständnisses.
Die Studios sind heute leider leer, es wird nur ein bisschen umgebaut. Das Gelände sieht ziemlich schäbig aus und ich bin mir nicht sicher, wo genau dort die traumhaften Bilder entstehen. Fast gegenüber liegt ein Gebäude, das mich durch seine Imposanz schon auf der Hinfahrt angezogen hat. In Dubai wäre es in einem normalen Straßenblock nicht aufgefallen, aber in hier ist es herausragend. Um die Idee einer Vorstellung zu kriegen, versuche ich es mal so: Chennai sieht so aus, als hätte man den hässlichen Teil Ostberlins 20 Jahre verfallen lassen und dann fünfmal so viele Menschen hineingepfercht wie vorher.
Das Gebäude stellt sich als Shoppingmall heraus, ziemlich groß sogar nach deutschen Verhältnissen und voll mit westlichen Marken (Mark & Spencer, Body Shop, KFC etc.). Im Gegensatz zu Kenia und Tansania, wo der moderne Kapitalismus noch in den Kinderschuhen steckt, kann man in Indien, zumindest in den Großstädten, alles bekommen was man von daheim gewohnt ist. Aber hier ist das die Speerspitze einer langsamen Entwicklung, die wiederum höchstens ein Drittel der Bevölkerung betrifft, der Rest lebt weiterhin wie schon die Jahrhunderte zuvor (vlt. mit einem Fernseher). Wahrscheinlich wegen der Bevölkerungsdichte und Urbanisierung kommen mir die sozialen Kontraste hier noch viel krasser vor. Häufig hört man, dass wohl jedes andere Land mit solchen Spannungen schon lange im Bürgerkriegszustand wäre. Dass es nicht dazu kommt wird auf den Hinduismus zurückgeführt. Der ist ziemlich fatalistisch, was einerseits Toleranz und Friedfertigkeit fördert, andererseits Eigenantrieb erstickt.
Von den positiven Aspekten bekomme ich am Abend noch etwas mit, als ich zwei Tempel besuche. Selbst in den für islamische Verhältnisse toleranten Vereinigten Emiraten waren fast alle Moscheen nur für Muslime zugänglich. Hier hingegen darf ich bis auf das Innerste eines Tempels alles betreten und Fotos machen. Die Tempel sehen meistens so aus, wie man sie sich vorstellt. Aufwendige Kuppelverzierungen, Gottheiten, viele Kerzen, Opfergaben und Räucherstäbchen. Es riecht richtig angenehm, keine Spur von der Mischung aus Abgasen und Fäkalien 100 Meter entfernt.
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